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      Die Internet-Installation ER/SIE erstellt von Sabine Orth in Zusammenarbeit mit der Autorin basiert auf dem Buch ER/SIE VEXUS I-VII von Ursula Menzer (1996). Einige Kapitel, bzw. Untergruppen wurden nicht aufgenommen, einige nach dem Druck des Buches entstandene kamen neu hinzu.






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      VEXUS
      Die Wort-Erfindung VEXUS der Autorin leitet sich her von: vexieren: "plagen; necken, zum besten haben, irreführen", auslat. vexare "stark bewegen, schütteln; plagen; quälen"; s. "Vexierbild", DUDEN Bd.7, Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, S. 788, Mannheim,Wien, Zürich 21989

      Das Buch erschien im Verlag Monika Hoffmann, Paderborn 1996
      128 Seiten, unpag., Franz. Broschur, ISBN 3-9804539-2-8, Erstausgabe Oktober 1996, DM 29.-
      "Es gehört mit unter die seltsamen Spiele, die sich mit der Sprache treiben lassen, daß man auf Worte achtet, die in anderen Worten versteckt sind. Ursula Menzer kapriziert sich dabei auf die Personal- pronomen ER und SIE - und treibt sie aus den unterschiedlichsten Text- und Wortverstecken her- aus." aus: Karl Riha, Frankfurter Rundschau
      "Ein der Grammatik Kundiger mag darauf hinweisen, daß jenes "er" im Deutschen eine häufige En- dung sei, die nichts Geschlechtsspezifisches berge. Jene, die statt "man" gerne "frau" schreiben, wird das aber nicht beeindrucken. Drum seien alle Wort-Künstlerinnen aufgerufen, ein erloses, siereiches Vokabular zu ersinnen." aus: Peter Dittman, DIE WELT
      "Die Initialisierung des ER/SIE-Projekts liegt viele Jahre zurück und bestand aus einer winzigen, ei- gentlich methodischen Idee: der optischen und akustischen Markierung von ER- und/oder SIE-Be- standteilen in Wörtern. Aus den spielerischen Anfängen entwickelte sich ein bis heute andauernder, poetischer Prozeß literarischer Experimente und sprachlich-visueller bzw. phonetischer Versuche, der formal unterschiedlichste Ergebnisse hervorbrachte. Zu ihrer Bezeichnung und Ordnung wurden die verschiedenen Formen, die gleichsam Phasen der Entfaltung des Materials repräsentieren, unter den dafür geprägten Oberbegriff VEXUS gestellt und durchnumeriert. Den vorläufigen Endpunkt dieses Work in Progress - was den schriftlich/visuellen Teil des Projekts anbelangt - bildet mit einer Zusammenstellung ausgewählter Texte das Buch: ER/SIE. VEXUS l - VII. Die umfangreichen Wörter-Sammlungen in den "Kolonnen", schon gar die "Homagen", die visuell- poetischen Ein-Wort-Gedichte oder die "Serien" wollen keine linguistische These verifizieren. Sie haben einen rein literarischen Sinn und die poetische Regel - suche, markiere und verwende Wörter mit ER- und/oder SIE-Bestandteilen - basiert auf einer Setzung, die mit dem untergründigen seman- tischen Assoziationsfeld der Geschlechter-Thematik kalkuliert, aus dem sie ihre Dynamik lädt." aus: Ursula Menzer, Zur Genese eines Projekts. Schloß Plüschow, September 1996


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    __ Ex. Ursula Menzer: ER/SIE VEXUS I-VII (in Folie eingeschweißt)
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    ER/SIE-Ausstellungen / Aktionen


      ER/SIE. Seh-Texte.

        Ausstellung. Stadt- und Landesbibliothek Potsdam: 7. März - 25.April 1998.
        Vernissage: 7. März 1998 Begrüßung: Rosemarie Spatz, Ausstellungsorganisatorin Einführungsvortrag: "Ein Tick, ein Trick und ein Projekt. Einige Anmerkungen zu Ursula Menzers poetischem Projekt ER/SIE VEXUS I-VII".Stephan Porombka, FU Berlin; Initiator der "Softmoderne. Festival der Netzliteratur". ER/SIE-Lese-Performance: Sabine Arnhold und Hans-Jochen Röhrig, Schauspielhaus Potsdam.

      ER/SIE. Seh-Texte.

        Text-Aktion im Rahmen der 8. Magdeburger Literaturwochen. Literaturhaus Magdeburg 30. April 1998 Ausstellung, Vortrag, Faxaktivität; Lese-Performance ER/SIE-Lese-Performance: Sabine Arnhold und Hans-Jochen Röhrig, Schauspielhaus Potsdam und Warnfried Altmann, Saxophon, Magedeburg.

      ER/SIE. Seh-Texte.

      die Autorin und der Text, Fotos von Evelin Frerk, Hamburg: Ausstellung. Universität Lüneburg: 1. Juli - 13. Juli 1998

      Programm Vernissage: 30. Juni 1998 ER/SIE-Lese-Performance I: Patricia Frey und Uli Pleßmann, Hamburg Begrüßung und Einleitung zur Ausstellung: Prof. Dr. Jörg Ziegenspeck, Universität Lüneburg Vortrag Dr. Karl-Heinz Ignatz Kerscher, Universität Lüneburg: "Aspekte geschlechtsspezifischen Sprachgebrauchs".
      Programm Finissage: 13. Juli 1998 Begrüßung: Prof. Dr. Jörg Ziegenspeck Poetik-Vorlesung Dr. Ursula Menzer: "ER/SIE. Zur Genese eines literarischen Projekts" ER/SIE-Lese-Performance II: Claudia Gáldy und Uli Pleßmann, Hamburg







    ER/SIE-Lese-Performance


      Die ER/SIE-Performance wurde anläßlich der Ausstellung in der Stadt- und Landesbibliothek Potsdam uraufgeführt (Sabine Arnhold und Hans-Jochen Röhrig). Sie wurde im Literaturhaus Magdeburg - ergänzt um den Saxophonisten Warnfried Altmann wiederholt und anläßlich der erweiterten Ausstellung in der Universität Lüneburg mit anderen Schauspielern (Patricia Frey, Claudia Gáldy und Uli Plessmann) und einer veränderten Regie zur Vernissage und zur Finissage erneut aufgeführt.Der Text ist in der Dokumentation nachzulesen, eine Audio-CD mit(Anne Moll und Uli Plessmann) ist Bestandteil der Dokumentation.







    Poetik-Vorlesung



    Ursula Menzer


    ER/SIE

    Zur Genese eines Projekts


    Poetik-Vorlesung




      Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren!

      Die Reihenfolge einer Begrüßung sollte eigentlich nicht bestimmt sein von konventionellen Privilegen, schon gar nicht, wenn diese Privilegien längst obsolet geworden, ganz besonders, wenn die Voraussetzungen, worauf eben diese Privilegien beruhen, falsch oder inzwischen verändert sind.

      Sehr geehrte Herren, sehr geehrte Damen!

      Die Reihenfolge der Begrüßung sollte vielmehr von den Prinzipien der Höflichkeit geleitet sein. Eines der Höflichkeitsprinzipien gebietet: einem Gast oder dem wie auch immer "Anderen" den Vortritt zu lassen. Insofern begrüße ich als Frau zuerst die anwesenden Männer, die Herren vor den Damen und insofern heißt der Titel meines Buch und Ausstellungs-Projektes nicht SIE / ER, sondern ER / SIE.

      Bei der Wahl des Titels war letztlich - abgesehen von der selbstverständlichen inhaltlichen Präzision - der Klang ausschlaggebend: ER - SIE, nicht SIE - ER, denn ein - "Hiatus" genanntes - phonetisches Phänomen, das Aufeinanderfolgen zweier Vokale ist sprachlich keine gelungene Lösung.
      Daß durch die klangliche Präferenz das Höflichkeitsprinzip bei der Wahl des Titels nicht verletzt werden mußte, sondern Klangqualität und Reihenfolge sich gleichsam verbünden ließen, ist ein kleines Beispiel für eine sprachliche Fügung. Solche Fügungen oder auch, ganz anders, gelungene Unterwerfungen und Zwingungen der Sprache machen nicht zuletzt die Glücksmomente des Schreibens aus.

      Sprache verbindet, grenzt aber auch ab. Sie schafft Vereinigung, aber auch Unterscheidung: DU oder ICH. Und über Sprache ist auch das Bewußtsein der Geschlechtszugehörigkeit vermittelt. ER oder SIE.

      Sprache, das wird bei der Rezeption von Literatur oft vergessen, ist - neben Ideen und Einfällen - die Ressource dichterischer Arbeit. Sprache ist für Autoren Arbeits-Material, wie für Künstler Farbe oder Marmor oder Licht Arbeits-Material ist. Vor ein paar Tagen habe ich von der österreichischen Autorin Elfriede Jelinek gelesen:

        "Auf der Werkbank der Dichtung wird auf die Sprache eingeschlagen, damit sie etwas herausbildet. Was sie nicht freiwillig tun will."

      Dieser Umgang mit Sprache hört sich übertrieben und literarisch zugespitzt an. Doch wer schreibt und dabei auch an Verwerfungen und an die Grenzen der Sprache gelangt, kennt die Prügeleien. Um so schöner die Momente, in denen es gewaltlos zugehen kann.


      Elfriede Jelinek meint mit der in dem Zitat zum Ausdruck kommenden Sprach-Erfahrung meines Erachtens nicht nur die Erfahrung mit einer Sprache, die durch die Barbarei des Nationalsozialismus, durch Propaganda und Dauerwerbung, durch das endlose Geschwätz des Fernsehens und durch überpragmatischen Sprachfunktionalismus im Alltag durchdrungen ist, sondern sie meint meines Erachtens Kampf mit dem Material und auch Entfremdung. Von sprachlicher Entfremdung, als Beispiel, wie uns Kultur - gleichsam tragisch - als feindliches System gegenübersteht, schreibt Georg Simmel, der Philosoph der Jahrhundertwende, auch zu seiner Zeit:


        "Sogar die Sprache empfinden wir gelegentlich wie eine fremde Naturmacht, die nicht nur unsere Äußerungen, sondern auch unsere innersten Gerichtetheiten verbiegt und verstümmelt."


      Sprache, obwohl unsere Sprache, steht uns allen als objektives Gebilde gegenüber. Sie ist da, wir haben sie, aber wir haben sie auch nicht.

      Beim Titel von ER/SIE zeigt sich bereits, was sich durch das gesamte Projekts zieht: manches ist Zufall, was auch immer das im Rahmen sprachlicher und poetischer Konstruktionen bedeuten kann. Viel sieht wie Zufall aus. Immer jedoch steht dahinter Produktion und Entscheidung.

      Ich bin heute Abend eingeladen, über ER/SIE zu sprechen, über mein Buch, über meine Ausstellung und ich komme dem gerne nach. Es ist nicht unkompliziert für einen Autor, für eine Autorin, Mitteilungen über ein eigenes literarisches Projekt zu machen und zu dem Geschriebenen auch eine Meta-Position einzunehmen, das Geschriebene zu kommentieren, wenn nicht gar zu interpretieren. Literaturwissenschaftler nehmen ja bekanntlich für sich in Anspruch, mehr als die Produzenten selbst, zu einem Text einschlägig Auskunft geben zu können. Diesen Großanspruch einer ganzen akademischen, besitzstandsbewußten Community in Zweifel zu ziehen, will ich nicht zu meinem Thema machen. Ich werde, entfernt von Ansätzen einer Interpretation, lediglich versuchen, die Entstehungsgeschichte und den Hintergrund meines Projekts nachzuzeichnen und mit einigen Hinweisen und theoretischen Einschüben zu verbinden.

      Im Folgenden möchte ich zunächst über die Entstehung von ER/SIE, über die Umstände der sogenannten Initialzündung sprechen. In einem kleinen Exkurs möchte ich dann den Terminus "Seh-Text" als literarische Gattung ansprechen. Dann werde ich zu dem Hauptstück meines Themas kommen und darstellen, wie sich aus einer eigentlich methodischen Idee ein Projekt entwickelt hat. Darüber hinaus gibt es dann noch einige kurze Anmerkungen zur Rezeption und zum Technischen und zu Aspekten der medialen Transformation. Zum Schluß noch etwas zur Entstehung der Lese-Performance.



      Entstehung, Hintergrund und Initialzündung


      Die ersten Ansätze dessen, was sich später als ER/SIE-Projekt formulieren sollte, gehen auf den Sommer 1993 zurück. Ich arbeitete an der Recherche zu einem Textvorhaben, das den extensiven Gebrauch diverser Wörterbücher erforderte.

      Wie Sie aus eigener Erfahrung sicherlich selbst schon kennengelernt haben, hat nicht nur das Schreiben, es hat auch das Lesen seine besonderen Tücken. Bei Müdigkeit z.B. verschieben sich die Absätze, kippen die Zeilen, beginnen die Wörter zu tanzen, fallen einzelne Partien förmlich aus dem Kontext.

      In solch einer Situation der Wahrnehmungsbeeinträchtigung infolge von Müdigkeit enstand die Initialzündung zu ER/SIE. Aus den Spalten im Wörterbuch trat hier und da - quasi blinkend - ein "er" hervor, das ich nicht einfach nur als Buchstabenkombination las, sondern - und das hängt sicherlich mit meinem theoretischen Hintergrund zusammen - quasi als sprachlichen Repräsentanten des Maskulinen in den Wörtern. Und wo sind die "sie", die sprachlichen Repräsentantinnen des Femininen in den Wörtern? Diese Frage machte mich wieder völlig wach, die "er" und "sie" traten infolgedessen wieder in die gewohnte Unauffälligkeit der Linien zurück. Doch ich hielt fest an dem Muster des doppelbödigen, vexierenden Blicks, der einen Ausgangspunkt bilden sollte für das weitere Vorgehen. Entschieden war damit bereits die Wahl einer Text-Form mit einer deutlich optischen Komponente und "typographischen Exzentrizität", um eine Formulierung Roland Barthes zu verwenden.

      Diese Ur-Situation der ER/SIE-Idee, diese zwar rekonstruierte, aber eigentlich transparente und nachvollziehbare Initialzündung, habe ich später versucht, in dem Blatt "Urvexus" zu erfassen.

      Die Geschichte der wissenschaftlichen und poetischen Text-Produktion und -Reproduktion weiß um die Bedeutung von "Versprechern", "Verschreibern", "Verlesern", nicht nur bei Sigmund Freud, Wittgenstein oder der zum Programm erhobenen "écriture automatique" der Surrealisten.

      Es gibt kreative Tücken des Sprechens, Schreibens, Lesens und gerade sie sind nicht einfach nur Ergebnis der Umstände oder linguistischer Fallen. Diese kreativen Tücken widerfahren dem Opfer zwar in der Regel unvorbereitet und aus dem metaphorisch bekannten "heiteren Himmel" heraus kommend. Aber sie kommen durchaus nicht aus dem Nichts und sie passen auf wundersame Weise zu dem hinterrücks getroffenen Opfer der Tücke.

      Schaut man sich die Artikulationen der Tücken des Sprechens, Schreibens, Lesens an, gehen - um mit Foucault zu sprechen - "Dispositive des Wissens" ein, was sich umfangreicher fassen ließe mit: Voraussetzungen und Hintergründen nicht nur des Wissens, also intellektueller und mentaler Bedingungen, sondern der gesamten Biographie. Was soviel heißt wie z. B.: Erfahrung des Frau- oder Mann-Seins, Erfahrung des Alt- oder Jung-Seins etc., Erfahrung existentieller Umstände.

      Meine Aufmerksamkeit für die Buchstabenkombinationen "er" und "sie", hat nicht zuletzt ihre Grundlage in einer intellektuellen und emotionalen Sensibilität für die philosophischen, psychosozialen und sprachlichen Konstruktionen unser Wirklichkeit in bezug auf die Frage der Geschlechter. Die Frage, wie Männer und Frauen sich strukturell zueinander verhalten, wie die kulturellen Bedingungen ihres Zusammenlebens historisch geprägt sind, wie "männlich" und "weiblich" gedacht und definiert werden in einer ansatzweise multikulturellen, in einer demokratischen und liberalen, d.h. nicht rassistisch und biologistisch kodifizierten Zivilisation, oder die Frage, wo nach wie vor Modelle der alten, männerdominierten Gesellschaftsstruktur wirksam sind, wie sie sich begründen oder ideologisch verdecken, war für mich immer von besonderem Interesse. Daher u. A. auch: langjährige Auseinandersetzung mit philosophischen Geschlechterkonzeptionen und mit Fragen geschlechtsspezifischer Ästhetik in Kunst und Literatur.

      In diesem Theorie-Zusammenhang hat auch der bereits erwähnte Kulturphilosoph Georg Simmel eine Rolle gespielt, der, wie Sie vielleicht wissen, zu Anfang dieses Jahrhunderts nicht nur über die Tragödie der Kultur geschrieben und die formale Soziologie erfunden hat, sondern sich auch - in Reaktion auf die entstehende Frauenbewegung - genötigt fühlte, Ansätze zu einer moderen Metaphysik der Geschlechter zu formulieren. Sie fiel vielleicht modern, jedoch alles andere als fortschrittlich aus, da sie lediglich alte Stereotype von Mann und Frau in einem philosophischen Recycling aufarbeitete.

      Kurz: Bei dem ER/SIE-Projekt kam der Geschlechter-Implikation eine besondere Wichtigkeit zu.



      Terminologisches zu dem Begriff "Seh-Text"


      Fast die gesamte Richtung der experimentellen Schreibweise der Gegenwart, wie sie sich nach dem 2. Weltkrieg entwickelt oder weiterentwickelt hat, steht unter dem Zeichen der Sprachkritik. Das gilt auch für "Seh-Texte", die als Unterabteilung oder Spezialisierung der "Konkreten Poesie" zu verstehen sind und für deren theoretisches Verständnis nach wie vor die Programmatik der "Konkreten Poesie" Gültigkeit hat, wie sie von Max Bense, Eugen Gomringer, Franz Mon, Helmut Heißenbüttel und anderen Autoren und Theoretikern formuliert wurde. Die "Konkrete Poesie" umfaßt äußerst heterogene Texte, was nach wie vor zu Definitions- und Abgrenzungsproblemen führt. Allen gemeinsam ist das grundsätzliche sprachliche Selbstverständnis der "Konkreten Poesie" und damit auch der "Seh-Texte". Sie unterscheiden sich signifikant von den Schreibweisen anderer, auch anderer experimenteller, literarischer Gattungen. Die "Konkrete Poesie" und damit die "Seh-Texte" betonen die Autonomie der Sprache. Sprache wird als eigenständiges Material, als Selbstzweck ein- und vorausgesetzt und nicht in Sinne von Kommunikation oder Information, um Außersprachliches zu transportieren. Diese selbstreflektive und hoch selbstreferentielle poetische Sprache unterscheidet sich damit völlig von dem pragmatischen Nutzungsverhältnis der alltägliche Sprache in Alltag, Wissenschaft und der üblichen Literatur.

      Der Dichter und Theoretiker der "Konkreten Poesie" Franz Mon schreibt in seinem Essay "Text als Prozeß":

        "Der poetische Text unterscheidet sich von (solchen) Mitteilungssprachen, daß er an jeder Stelle bei sich selbst ist.Er vermittelt nichts als sich selbst, auch wenn er irgendwelche Inhalte darzustellen scheint." (96)

      und weiter heißt es dort:

        "Sprache vermittelt nicht nur etwas Reales, ihr Transzendentes und im Grunde Gleichgültiges, sondern ist die Sache selbst. Ihre Struktur gibt Hinweise, in welcher Weise neue Texte gewonnen, bestehende verändert, umgestoßen, als Material verwendet werden können." (96)

      Für den Zusammenhang der Seh-Texte ist es also wichtig, buchstäblich im Auge zu behalten, daß es den Autoren und Autorinnen solcher Texte weniger darum geht, einen Inhalt einzubringen oder gar eine Geschichte zu erzählen, sondern Sprache als Material in poetischer Absicht zu reflektieren und damit zu arbeiten. Nicht wenige Autoren verstehen ihre Produkte deshalb auch als Sprach-Objekte.

      Der Begriff "Seh-Text", den ich als literarische Genre-Bezeichnung gewählt habe, wurde in den 60er Jahren geprägt und stammt von dem Künstler und Dichter Ferdinand Kriwet. Der Name "Seh-Text" verweist sowohl auf die Gesamtheit des Gebildes aus Sprache und deren typographischen Elemente als Text, als auch auf deren spezifischer Wahrnehmungsmöglichkeit, auf die "Rezeption zwischen Simultan-Sehen und Sukzessiv-Lesen", wie es bei Kriwet heißt.

      Er schreibt:

        "Aufgabe des Begriffs ist, eine Sache nicht nur zu begreifen, sondern auch mitzuteilen. So begreift der Terminus SEHTEXT als dominierende Problematik visuell wahrnehmbarer Literatur die Spannungen zwischen dem sinnlichen oder sensorischen SEHen und dem intellektuellen Lesen und Verstehen von TEXT. Gesehen wird primär die Anordnung des Textes, die Verteilung seiner Elemente, die Großform oder Totalität, vergleichbar der Totalen im Film. Gelesen wird der Text, wie wir nun wissen, nachdem er gesehen wurde, was zwar, wie schon festgestellt, eine Binsenweisheit ist, die jedoch darob nicht der Wirklichkeit entbehrt, - und wenn schon kein Text gelesen werden kann ohne zuvor gesehen worden zu sein, dann ist es unbegreiflich, warum man keine Texte machen soll, die auch bloß gesehen schon zu wirken vermögen." (Vorspann S. 21)

      denn

        "Kurz gefaßt, ist Sehen ein Empfindungsvorgang und Lesen die Reaktion auf ihn." (S. 21)

      Zum tieferen Verständnis dessen, was bei der Rezeption von Seh-Texten geschieht, nimmt Kriwet die Unterscheidung zwischen "apperzeptivem Lesen" und "assimilativem Lesen" des Sprachpsychologen Friedrich Kainz auf.

      Nach Kainz ist das apperzeptive Lesen dadurch charakterisiert, daß die Aufmerksamkeit auf die genaue Erfassung des Textmaterials gerichtet ist; es wird immer nur ein kleines Stück ins Auge gefaßt und nur auf dieses konzentriert sich die Aufmerksamkeit. Der Blick schweift nicht über das fixierte Textsegment hinaus. Unter assimilativem Lesen dagegen versteht Kainz einen Lese-Vorgang, in dem das eben Perzepierte mit dem mnestischen Bestand verschmolzen wird.

      Bei der Rezeption von Seh-Texten spielt das "apperzeptive Lesen" die geringere, das "assimilative Lesen" die größere Rolle. Daher ist eine wichtige Voraussetzung funktionierender Seh-Texte ihre hohe Redundanz, so daß die apperzeptiv lesend wahrgenommenen Partien assimilativ aus dem Erinnerungsvermögen ergänzt und zu einer Gesamtaktion amalgamiert werden können. Was die Umwandlung von Seh-Texte in Hör-Texte anbelangt, wäre genauer zu untersuchen, ob enstprechend "apperzeptives und assimilatives Hören" zum Tragen kommen.

      Bei der zum Funktionieren geforderten Redundanz möchte ich in Anbetracht meiner Seh-Texte darauf hinweisen, daß ER/SIE eine Doppelfunktion einnimmt und sowohl als Thema der Texte, als auch durchgängig strukturbildend und damit als redundanzerzeugendes Element auftritt.


      Von der Idee zum Projekt

      Am Anfang also stand ein Fund.

      "Er" und "sie" sind das männliche und weibliche Personalpronomen in der deutschen Sprache und stehen für das sprachliche Geschlecht von Wörtern. Aber als sprachliche Repräsentanten des Weiblichen und Männlichen stehen sie auch für einen fundamentalen Dualismus in der geistigen und materiellen Verfassung unserer Realität. Das "er" hat in unserer Sprache - neben der Funktion des Personalpronomens in der 3. Person Singular - noch weitere und ganz andere Funktionen als das "sie". Z. B. bildet es bei einer ganzen Reihe von Wörtern oder Wortklassen die Vorsilbe oder die Endung, wie z. B. bei fast allen Berufsbezeichnungen. Das "sie" kennt diese Suffix- oder Affixfunktionen nicht, allerdings bestreitet es neben der Funktion des Personalpronomens in der 3. Person Singular hinaus auch das Personalpronomen in der 3. Person Plural, die invariant beide Geschlechter umfaßt, sowie die ebenfalls geschlechtsunspezifische Höflichkeitsform. Unabhängig von den "er" und "sie" in ihren zahlreichen grammatikalisschen Funktionen gab es dann darüber hinaus noch die einfachen ER- und SIE-Buchstabenkombinationen in den Wörtern. Der Fund bestand in der Fokusierung auf eben diese ER- und SIE-Kombinationen als Bestandteile der Wörter, nicht in der Fokusierung auf die Personalpronomen selbst und ihrem Vorkommen in Texten.

      Es waren mir Wortsegemente ins Auge gefallen, ich hatte Teile vereinzelter Wörter eher wahrgenommen, als dezidiert gelesen: zunächst: da und dort ein "er", wie bei ERkenntnis, ERoberung oder auch bei SchERz, ZwERg oder DichtER oder ein "sie" wie bei PoeSIE. Die "er" und "sie" waren wie Schaumkronen in einem Sturm, gleichsam aufgespült und hochgeworfen aus dem Meer der Wörter und wiesen ein bisher unbekanntes, gemeinsames Merkmal auf.

      Vor dem Hintergrund, den ich Ihnen gerade in einigen Stichwörtern skizziert habe, war mein Fund aus dem Geiste einer Leseirritation nicht eigentlich ein Fund im Sinn von "darüber-stolpern", sondern ein gleichsam transzendentaler Fund - ob Kant solche Funde auch kannte? - ein Fund in einem konstruktivistisch zu verstehenden Sinn. Die Wortfindungen häuften sich und sie versetzten mich in Erstaunen. An dem Material einzelner Wörter versuchte ich formale Umsetzungen entlang ihrer Semantik oder ihres Begriffs und zwar so, daß auch in den singulären Gebilden der Ein-Wort-Gedichte der ER/SIE-Zusammenhang - gleichsam einer Matrix - zum Vorschein kam. Zu diesem Zweck hatte ich gleich zu Anfang ein Verfahren ersonnen, das die ER/SIE-Elemente der Wörter hervorhebt. Ich nannte es Markierungs-Verfahren. In einem späteren Meta-Text, entstanden in Schloß Plüschow, habe ich die Ur-Situation und das Markierungs-Verfahren folgendermaßen beschrieben: "Plötzlich starrten mich die Er- und Sie-Bestandteile der Wörter an. Ich starrte zurück und wenn sie auch nicht zu Stein wurden, so markierte ich sie doch optisch."

      Ich erprobte das Markierungs-Verfahren auch an fremden Texten, z. B. an Textpartien des Alten Testaments, an Texten von Friedrich Hölderlin, Friedrich Nietzsche, Ernst Jünger, Friederike Mayröcker. Dieses Markierungsverfahren hat sowohl eine optische, als auch eine phonetische Komponente. Geschriebenes wurde - unter Verwendung typographischer Mittel - optisch markiert. Phonetisch/akustische Versuche wurde damals zunächst hintenan gestellt.

      Die Aussicht auf einen Fundus poetisch imprägnierten Sprachmaterials mit einer starken, assoziativen Energie bewogen mich zu einem systematischen Suchprozeß mit der Regel: suche Wörter mit den Bestandteilen ER und/oder SIE. Der computergestützte Zugriff auf den kompletten Wortschatz hätte die Suche sehr erleichtert. Leider stand er damals auf CD-ROM noch nicht zur Verfügung. Doch ich hatte die freundliche Unterstützung von hilfsbereiten Mitmenschen.

      Wörter-Sammlungen wurden angelegt und markiert. Die unverhältnismäßig größere Häufigkeit der ER-Kombination im Vergleich zu der SIE-Kombination löste einen Aha-Effekt aus.

      Dazu muß gesagt werden: Die ER-Buchstabenkombination übt in der deutschen Sprache, wie bereits angeführt, verschiedenartige und mehr Funktionen aus, als die SIE-Kombination. Überdies wirkt sich eine allgemeine Spezialität statistischer Häufigkeiten aus: 2er-Kombinationen treten statistisch häufiger auf als 3er-Kombinationen. Zu der Verteilung der Häufigkeit will ich mich nicht weiter äußern. Ich stelle sie lediglich als sprachliches Faktum dar. Ob es eine Bedeutung hat, daß es mehr ER-Kombinationen gibt, als SIE-Kombinationen und wenn ja, welche, war für mich keine projektleitende Frage. Ich stelle keine linguistische These zu diesem Phänomen der Ungleichverteilung auf, das ich zwar entdeckt habe, aber in keiner anderen als in einer poetischer Weise zu interpretieren gedenke.

      Die Wörter-Kollektionen wurden mein poetischer Grund- und Ausgangstoff für Öffnungen und Dichtungen verschiedenster Art. Pur präsentiert wurde ein Teil davon - die Substantive - in den positivistischen, alphabetischen "Kolonnen". Ich nutzte die Wörtersammlungen nun systematisch und experimentierte mit verschiedenen literarischen Formen. Das war der Beginn einer umfangreichen poetischen Produktion, die sich immer wieder veränderte und die angetrieben wurde von der Spannung zwischen Emotion und Mechanik, Bedeutung und Künstlichkeit; und der Lust am Sprachwitz.

      Phasen der Material-Sammlung und Phasen poetisch-konstruktiver Produktion wechselten, gingen ineinander über, inspirierten sich gegenseitig. Die Markierung hatte einen optischen Aspekt in die Wörter gebracht, der in verschiedene Richtungen weiter ausgebaut werden konnte.

      Es enstanden u. A. Sprach-Objekt wie z. B. "BattERie". Von diesen sogenannten "Figurengedichten" gibt es eine lange bis in die Antike und in das Mittelalter zurückreichende Tradition, in der z. B. Texte der Frömmigkeit und der Andacht in Säulen- Altar- oder Kreuzform gebracht wurden. Auch wurden in manchen der alten Texte, wie ich sie inzwischen entdeckte, meinen Markierungen ähnliche Hervorhebungen vorgenommen, um einen religiösen Subtext zu offenbaren, z. B. Optatianus Porfyrius aus dem 4. Jh.. In der Tradition der "Figurengedichte" finden wir in der klassichen Moderne z. B. die Kalligramme Guillaume Apollinaires, in denen Texte mit einem bildlichen Umriß versehen wurden, der dem Gedicht eine zusätzliche Bedeutungsdimension verleiht. Apollinaires Pferd wurde zu einem Topos des Genres und an dieses Motiv wurde später immer wieder angeknüpft, wie auch z. B. Friederike Mayröcker Anfang der 70er Jahre an die Kreuzform angeknüpfte.

      Zu der Zeit waren auch die Panzer mit unterschiedlichen Texten gefüllt oder kontrastiert aufgefahren, als Proetest gegen den Vietnamkrieg.

      Es gibt einen bis heute andauernden und unentschiedenen, akademischen Streit, ob "Visuelle Poesie" im Gegensatz zur "Konkreten Poesie" schon der Bildenden Kunst zuzurechnen ist, oder noch der Literatur angehört. Den Unterschied zwischen beiden verdeutlicht plastisch Eugen Gomringer, wenn er schreibt:

        "während die konkrete poesie die anschauung im wort, d.h. begrifflich, konzentriert, geht die visuelle poesie umgekehrt vor: sie macht begriffliches anschaulich. visuelle poesie illustriert." (S. 10)

      Hier ein kurzer Hinweis zur Literatur. In den 80er Jahren hat die Literaturwisenschaftlerin und heutige Kultursenatorin in Hamburg Christina Weiss die Geschichte und die theoretische Auseinandersetzung um Visuelle/Konkrete Kunst und Poesie und um Seh-Texte einschlägig und bis heute gültig aufgearbeitet. Jüngere Versuche, eine neue Klassifikation der Textsorten vorzunehmen, sind mit verschiedenen Mängeln behaftet und unzureichend.

      Die "BattERie" ist per definitionem der illustrierenden "Visuellen Poesie" zuzurechnen. Ich habe sie in meinem ER/SIE-Buch und in der Ausstellung als Beispiel für eine Richtung aufgenommen, die ich nicht weiter verfolgt habe, da das bildliche Moment das sprachliche dominiert. Bevor wir uns einem anderen Typus zuwenden, möchte ich Ihnen schließlich in diesem Zusammenhang doch ein Blatt Visueller Poesie nicht vorenthalten, da es den Titel "SIE und ER" trägt. Es ist von Paul Wühr und ich habe es im Zuge meiner Traditions-Sichtungen entdeckt. Es gehört typologisch zu den Figurengedichten in der Art der Kalligraphien Apollinaires.

      In den Einwortgedichten, genannt "Soli" scheinen noch Aspekte der Ikonisierung eines Wortes oder eines Begriffs auf, aber die Zielsetzung ist vielmehr eine begriffliche Reflexion. Zu diesem Zweck wird die topologische Organisation des Wortmaterials auf der Fläche des Blatts syntaktisch eingesetzt.

      Stéphane Mallarmés Gedicht "Coup des Dés", "Würfelwurf" ist das prominenteste Besipiel der klassichen Moderne, in der die Flächensyntax zum ersten Mal bewußt angewandt wurde. Wie aus einem Würfelbecher geworfen, verteilen sich Worte über das Papier. Die Fläche hat für die Gliederung und für die semantische Präzisierung den Stellenwert analog der Syntax in gewöhnlichen Texten. Wie Franz Mon in seinem Text "Zur Poesie der Fläche" schreibt, wird die Fläche selbst zur "Textkonstituanten". In diesem Zusammenhang schreibt er auch von der Fläche als "optische Gestik" eines Textes, bzw. eines Sprachstücks.

      Die Besonderheit von Seh-Texten läßt sich z. B. bei dem Blatt "SIEgER" zeigen, das die Staffelung der Wortsegmente SIE / g / ER von unten nach oben aufbaut. Das SIE ist auf der unteren Ebene des Siegertreppchens plaziert, auf dem Platz des Verlierers, das ER auf der oberen Ebene und somit als Sieger ausgewiesen. Dieses Siegertreppchen gibt auch in einer anderen Lesart, in der das ER- und das SIE- Segment miteinander vertauscht sind. Hier ist ER unten, SIE oben plaziert.

      Es stellt sich die Frage, ob eine der beiden Versionen möglicherweise ideologisch-manipulativen Charakter hat. Die erste Version müßte sich den Vorwurf des Ideologischen gefallen lassen, da ich sie entgegen der gewöhnlichen Leserichtung konzipiert habe, was das SIE die Position als Unterlegene im Spiel der Parteien einnehmen läßt und die Vorstellung evoziert, daß Frauen die Verlierer in unserer Gesellschaft sind.

      Assoziationen zu wecken und Irritationen auszulösen ist bei dem gesamten Unternehmen selbstverständlich beabsichtigt. Eingesetzte Mittel sind z. B. Kontexte, in die Wörter gestellt werden und die Überschneidung von Bedeutungshöfen, die alle Wörter umgeben, oder z. B. minimale Interpunktierungen, wie z. B. bei der Wörterreihe ER-ung, die auch der Computeranimation zugrundeliegt. Die kleine Verrückung im Wort "Erfoschung" zu ER-Forschung oder von "Erzählung" zu ER-Zählung vermag durchaus Heiterkeit auszulösen, während die Reihe "Familie" eher Erstaunen hervorruft. Ein Abkömmling der "Familie" mit dem Titel "Verwandte" wurde zu einer Hommage an Ernst Jandl, inspiriert von seiner ironisch-poetischen Definition der "Wiener Gruppe".

      Wie Sie sicherlich bemerkt haben, setzt sich die Häufigkeit der ER gegenüber den SIE auch in meinen Buch und in der Ausstellung durch. Die ER sind in der Überzahl. Aus diesem Grund habe ich in meinem Buch dem SIE zumindest das letzte Wort gelassen: immER weitER SIEge die PoeSIE.

      Alle Einwort-Gedichte, Seriellen Texte und Sentenzen verschiedenster Formen, all die "Folgen" und "Kolonnen", "Paradigmen" und "Demographien" und "Konstellationen und "Hommagen" habe ich in einer späteren Phase unter den Oberbegriff, bzw. Namen "Vexus" gestellt.

      Was nun den Namen "Vexus" anbelangt, so möchte ich dazu einige Anmerkungen machen.

      VEXUS war eine Erfindung aus der Not heraus, denn als die Überlegung zu einem Buch entstand, hatte ich nicht nur eine nahezu unübersehbare Fülle von Material in Gestalt von Einzel-Blättern und Blätter-Serien. Sondern das Material folgte auch von sich aus weder chronologisch noch thematisch einem immanenten Ordnungsprinzip. Ich habe mich daher entschlossen, alle Seh-Texte unter dem formalen Merkmal des durch die Markierung entstandenen Changieren des Textes zu fassen, das eben dadurch entstanden war, daß in die unverfängliche sprachliche Ebene des Lexikalischen mit dem ER/SIE eine zweite Ebene eingezogen worden war: die sprachliche Symbolisierung der Geschlechter-Differenz. Das Changieren, das Vexieren der Wörter, des Textes war allen Blättern gemeinsam und so enstand "Vexus", der Name für jedes Ergebnis, das durch das Procedere der ER/SIE-Markierung hindurchgegangen war.

      Mit "Vexus" aus: vexieren als necken, schütteln, quälen taucht wieder das Thema Sprache "auf der Werkbank der Dichtung" auf, wovon zu Anfang die Rede war.

      Für das Buch wurde ein Teil der Blätter ausgewählt, die nun nach systematischen Gesichtspunkten gruppiert werden konnten: etwa der Abfolge des eher Dokumentarischen hin zum Poetischen. Aus den Gruppierungen enstanden die Kapitel VEXUS I-VII.

      Das Blatt, das die Ur-Situation der Entstehung des Projekts festhält, bekam selbstverständlich den Namen "Ur-Vexus" und liegt auch als Sonderdruck vor.


      Zur Rezeption von ER/SIE

      Wie bereits gesagt: das ER/SIE-Projekt will keine linguistische These traktieren, sondern hat einen rein poetischen Sinn und die Regel basiert auf einer poetischen Setzung, die mit dem untergründigen semantischen Assoziationsfeld der Geschlechter-Thematik kalkuliert, aus dem sie ihre Dynamik lädt.

      Aber eine These gibt es doch. Sie bezieht sich jedoch nicht auf das poetische Programm, sondern auf die Wirkung des Markierungsverfahrens, denn mit der Lektüre von ER/SIE verändert sich - zumindest für einige Zeit - das sprachpragmatische Selbstverständnis der Leser und Leserinnen. Auch sie sehen plötzlich überall, was sie bisher nicht gesehen haben, ER und SIE in den Wörtern und reflektieren Sprache neu. Und die Rezeption erzeugt auch Impulse zur eigenen Praxis: Leser und Leserinnen wenden bspw. die ER/SIE-Markierung auf jeden Text, auf jede Rede an, lesen mit neuer Betonung und können sich eigenen Markierungen kaum entziehen. Die Aufmerksmakeit für die ER und SIE zusammen mit dem Verfahren der Markierung wird zum Automatismus einer entdeckungsfreudigen Wortschatzprüfung.


      Anmerkungen zum Technischen und zur medialen Transformation

      Die Einsatzmöglichkeit neuer Schreib-Technologien war für das Projekt sehr hilfreich; mehr nicht. Wie jedes Handwerkzeug, so hat auch - im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten - der Computer dem Willen des Produzenten zu folgen, sofern der Wille nicht zu schwach und der Computer nicht zu "dumm" ist.

      Das ER/SIE Material bestand zu Anfang in einer schier unübersehbaren Fülle von DIN-A4-groß konzipierten Blättern, gespeichert in mehreren Computer-Dateien, ausgedruckt mit einem Laser-Drucker. Inzwischen liegt das Buch vor, es gibt eine Ausstellung in 2 verschiedenen Ausführungen und am liebsten würde ich auch noch eine interaktive Hypertext-Version für das Internet produzieren, was mich aber, wie die Vorbereitungen dazu inzwischen haben absehen lassen, vermutlich zeitlich, technisch und damit finanziell überfordern würde.

      Interessant sind mediale Transformationen ein und deselben Materials, weil sie das Material neu strukturieren. In vieler Hinsicht provozieren sie eine Weiterarbeit am Material selbst und tragen damit auch zu dessen Weiterentwicklung bei. Bei jedem Wechsel des Mediums habe ich tatsächlich zusätzliche Texte geschrieben, bzw. Veränderungen vorgenommen.

      Auf jeden Fall werfen mediale Transformationen viele formale Fragen auf. Als sich abzeichnete, daß Monika Hoffmann das Buch verlegen wollte, begann noch einmal eine Arbeitsphase. Ich hatte ja kein konventionelles Script, wie man es bei seinem Verlag abgibt und irgendwann ist ein Buch daraus geworden. Bei dem ER/SIE-Material war die Gestaltung des Buches - wie bei Seh-Texten selbstverständlich - Bestandteil seines Inhalts und lag damit ebenfalls in meiner Verantwortlichkeit.

      Unfraglich war für mich - wie auch für meine Verlegerin - von Anfang an ein unspektakuläres Outfit des Buches. Es sollte in einer sehr reduzierten, klassisch-minimalistischen Ästhetik den systematischen Charakter, ja die Rigidität, die dem Projekt zu eigen ist, aufnehmen und unterstreichen: schwarzer Druck auf weißem Papier, grauer Einband mit Akten- oder Archiv-Anmutung.

      Die Rigidität des Projekts übrigens, mit seinen positivistischen Anleihen und gleichsam strengen Versuchsanordnungen, seinem "Methodenzwang", um Paul Feyerabends wissenschaftstheoretische Kampfvokabel für die Poetikproduktion positiv zu wenden, hat für mich immer einen besonderen Reiz bedeutet. Der junge Literaturwissenschaftler aus der Freien Universität Berlin und Laudator der Ausstellung in Potsdam, Stefan Porombka, sprach in seiner ironischen Rede in diesem Zusammenhang vom einem "Tick" und einem "Trick".

      Textproduktion - das wissen formbewußte LyrikerInnen - Textproduktion, unter einem strengen, allerdings selbstauferlegten Reglement, nicht unbedingt nach dem Diktat einer normativen Ästhetik, kann äußerst inspirierend sein. Möglicherweise funktioniert dies aber nur bei Texten ohne ICH, wie in meinem ER/SIE-Projekt, die weniger Artikulationen eines Subjekts darstellen, wo nicht ein Autor oder eine Autorin sich spricht, sondern vielmehr die Sprache zum Sprechen gebracht wird.

      Mit der Transformation der Blätter und der Blätter-Serien in das Konzept eines Buches war ich mit einer Menge Schwierigkeiten konfrontiert, die ich nicht geahnt hatte. Bei deren Bewältigung habe dabei viel gelernt über Wahrnehmungsmuster, Leseerwartungen und Lesegewohnheiten und was es bedeutet, sie zu durchbrechen. Wie z. B. stellt man in einem Buch über mehrere Seiten z. B. das Serielle eines Textes her, wenn die Seiten in einem Buch unterschiedlich gelesen werden, je nachdem ob es die rechte oder die linke Seite ist? Ein ausgewachsenes formales Problem, das ich für die Gestaltung meines Buches dadurch löste, daß ich die Text-Blätter verkleinerte, um mehrere auf einer Seite präsentieren können, so daß der serielle Duktus zumindest annähernd deutlich wird. Dies hier im einzelnen zu analysieren und zu beschreiben wäre ein Thema für sich und geht über den heutigen Rahmen weit hinaus. Doch ein Buch ist nicht der einzige Ort für Poesie. Um noch einmal Ferdinand Kriwet zu zitieren:

        "Man kann das Buch nicht als Vase denken, in die jeder Inhalt paßt. Das Buch, seine Physis und Mechanik verlangt seine eigenen, die ihm angemessenen Inhalte, ich meine Lesemodelle, Lese-Ereignisse. Auch wende ich mich entschieden gegen die Institutionalisierung des Buches als einzig rechtmäßigen Heimstatt von Poesie. Die Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache sind nicht aufs Buch zu reduzieren, vielmehr wird das Buch in all seinen Eigentümlichkeiten zu einem Parameter des sprachlichen Komponierens unter vielen. Neben die sukzessive Form, wie das Buch sie repräsentiert, tritt die räumlich simultane, wie sie in der Textfläche erscheint." (Zur veränderten Rezeption, S. 15)

      Bei dem ER/SIE-Material war es nicht so, daß der Inhalt nicht in ein Buch gepaßt hätte. Er paßte überdies in eine Ausstellung. Vielleicht aber ist die Ausstellung wirklich das adäquatere, das bessere Medium für die Seh-Text-Blätter. Das Problem, Serielles darzustellen, zumindest, stellt sich nicht, da über das synchrone Sehen die Möglichkeit gegeben ist, ganze Reihen auf einmal in den Blick zu nehmen.

      Die Ausstellung war bisher in dem auch dem Buch zugrundeliegenden Konzept zu sehen, DIN-A4-Blätter, schwarz auf weiß.

      Jörg W. Ziegenspeck hat für seinen Ausstellungsraum den Vorschlag gemacht, Vergrößerungen der Blätter vorzunehmen und Farb-Element einzubringen. Mit dem größeren Format konnte ich mich einverstanden erklären, vor allem wo der Raum so roh und fast monumental wirkte. Das war allerdings vor der Renovierung. Seinem Vorschlag, mit verschiedenen farbigen Elementen die schwarz-weiße Langweiligkeit zu beleben, konnte ich aber nicht zustimmen. Doch mit den Vergrößerungen und dem schwarzen Druck auf Chromolux-Silber und den schwarzen Gründen kann ich sehr gut leben.


      Lese-Performance

      Von Anfang an hatte ich eine phonetisch-akustische Anwendung von ER/SIE, z.B. in Form eines Hörspiels im Sinn. Es interessierte mich, ob und wie die optische Markierung und die gesamte ER/SIE-Struktur in eine phonetische Markierung umsetzbar wäre.

      Franz Mon weist auf die Konvertibilität konkreter Texte bezüglich der Schrift- und Lautform (S. 138) hin, d. h., daß ein Text "konkreter Poesie", nicht nur seh- und lesebar ist, sondern in der Regel auch gesprochen werden kann, weil das Material - anders als z. B. in der visuellen Poesie - eben verbaler Natur ist.

      Trifft dies auch auf die Unterabteilung der konkreten Poesie, für "Seh-Texte" zu? Ich war skeptisch und es schien mir auch paradox, "Seh-Texte" hörbar machen zu wollen. Erst später wurde mir wirklich klar, daß durch die Markierung ja eine Hervorhebung gegeben ist, die sowohl optisch, als auch akustisch umsetzbar ist und die sich wie eine Partitur lesen läßt. Ich hatte mich selbst durch die Bezeichnung "Seh-Texte" blockiert. Ich kreiste immer wieder um das Thema, da bot sich unerwartet eine Konkretisierung an.

      Die Idee zu einer akustischen Umsetzung entwickelte sich eigentlich aus meiner Weigerung heraus, eine Lesung durchzuführen. Zur Eröffnung der ER/SIE-Ausstellung in der Stadt- und Landesbibliothek Potsdam im März diesen Jahres war ich um eine Lesung gebeten worden, die mir aber mit dem ER/SIE-Buch ganz undenkbar schien. Und so traf ich mit der Ausstellungsleiterin die Vereinbarung, daß wir Texte aus dem Buch von qualifizierten Sprechern vortragen lassen wollten. Ich stellte Texte aus meinem Buch und ein neu enststandenes Gedicht zu einem Sprechstück für eine weibliche und eine männliche Stimme zusammen und Frau Spatz bemühte sich beim Schauspielhaus Potsdam um eine Schauspielerin und um einen Schauspieler. Es war nicht einfach, jemanden zu finden, der sich an die Texte heranwagte, doch rechtzeitig zur Vernissage fand die Uraufführung einer ER/SIE-Text-Performance statt: mit Sabine Arnhold und Hans-Jochen Röhrig. Ende April wurde sie von beiden noch einmal im Literaturhaus Magdeburg in einer musikalisch durchwebten Version, zusammen mit dem Saxophonisten Warnfried Altmann, dargeboten.

      Für meine Text-Aktion im Literaturhaus Magdeburg habe ich eigens die literarische Fax-Aktivität erfunden. Die in diesem Zusammenhang entstandenen, meterlangen Schriftrollen aus einem technologisch zwar veralteten, aber ästhetisch reizvolle Textfahnen auswerfenden Faxgerät sind wiederum auf Photographien von Evelin Frerk anzutreffen. Nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit den Textfahnen und deren Metaphorik hat die Inspiration für ein Vorhaben geschaffen, an dem ich zur Zeit schreibe: "Die Autorin und der Text" und ich hoffe, daß bei diesem neuen Buchprojekt auch Evelin Frerk mit ihren Photographien dabei sein wird.



      Verwendete Literatur:

      Jelinek, Elfriede, nicht bei sich und doch zu hause, in: Theater heute 7/1998

      Simmel, Georg, Der Begriff und die Tragödie der Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais, S.197, in: Philosophische Kultur, Berlin 1983

      Kriwet, Ferdinand, Zur veränderten Rezeption von Wort und Bild, S. 16, in: leserattenfaenge, Sehtextkommentare (S. 11-16), Köln 1965

      Kriwet, Ferdinand, Vorspann zur visuell wahrnehmbaren Literatur, in: leserattenfaenge, Sehtextkommentare S. 17-23), Köln 1965

      Mon, Franz, Zur Poesie der Fläche, in: Texte über Texte (44-47), Neuwied und Berlin 1970

      Mon, Franz, Text als Prozeß, in: Texte über Texte (86-101), Neuwied und Berlin 1970

      Mon, Franz, Über konkrete Poesie, in: Texte über Texte (136-139), Neuwied und Berlin 1970

      Gomringer, Eugen, von der konkreten poesie zur visuellen poesie S. 10, in: visuelle poesie, anthologie, stuttgart 1996

      Einschlägig für die Diskussion:

      Weiss, Christina, Seh-Texte. Zur Erweiterung des Textbegriffs in konkreten und nach-konkreten visuellen Texten, Zirndorf 1984

      Anmerkung:

      Die im Overheadprojektor verwendeten Folien und die Kommentierungen finden in der schriftlichen Fassung der Vorlesung keine Erwähnung.








    Zur Dokumentation:


      Dokumentation der Vorträge anläßlich der Ausstellung ER/SIE Seh-Text von Ursula Menzer mit Photographien und Photogrammen von Evelin Frerk Lüneburg 30. Juni - 13. Juli 1998


    92 Seiten, DM 28.-
    ISBN 3-89569-042-2
    Band 2 der Schriftenreihe:
    Anstösse und Berichte aus der "Pädagogischen Werkstatt"
    Herausgeber: Prof. Dr. Jörg W. Ziegenspeck
    Verlag edition erlebnispädagogik im Institut für Erlebnispädagogikan der Universität Lüneburg,
    Scharnhorststr. 1
    D-21335 Lüneburg


    Inhalt der Dokumentation:


      Zur Einleitung und Eröffnung der Ausstellung. Von Jörg W. Ziegenspeck
      ER/SIE. Zur Genese eines Projekts. Poetik-Vorlesung von Ursula Menzer
      Geschlechtsspezifische Aspekte des Sprachgebrauchs. Vortrag von Ignaz Kerscher
      ER/SIE oder DIE AUTORIN - DER TEXT. Eine fotografische Auseinandersetzung von Evelin Frerk
      ER/SIE. Performance-Text für eine männliche und eine weiblicheStimme. Von Ursula Menzer
      Viten von Ursula Menzer, Evelin Frerk, Anne Moll, Uli Pleßmann
      Mit einer Audio-CD der ER/SIE-Textperformance